Systemische Therapie

Methoden und Anwendungsgebiete

Die systemische Therapie (ST) ist ein Psychotherapieverfahren, das die sozialen Beziehungen des Menschen in den Mittelpunkt der Therapie stellt. Der zentrale Gedanke der systemischen Therapie ist, dass der Mensch maßgeblich durch sein soziales Umfeld beeinflusst wird. Aus diesem Grund können nahe Bezugspersonen, wie beispielsweise Familienmitglieder oder der Partner, in den therapeutischen Prozess einbezogen werden.

Die systemische Therapie ist seit 2020 für Erwachsene und seit 2024 für Kinder und Jugendliche ein anerkanntes Richtlinienverfahren. Im Rahmen einer Langzeittherapie übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen zunächst die Kosten für 36 Sitzungen. Falls eine Verlängerung der Psychotherapie notwendig ist, kann die Anzahl der Sitzungen auf bis zu 48 erhöht werden.

Voraussetzung für die Kostenübernahme einer Psychotherapie ist die medizinische Notwendigkeit, also das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung. Eine klassische Paar- oder Familienberatung ist daher keine Kassenleistung.

Grundlagen der systemischen Therapie

Der Mensch wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst. In der systemischen Therapie wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch Teil eines sozialen Systems ist und soziale Beziehungen einen Einfluss auf die psychische Gesundheit haben. Als System können verschiedene Personenkonstellationen um den sogenannten Indexpatienten betrachtet werden, beispielsweise die Familie, eine Partnerschaft oder das Arbeitsumfeld.

In einem System beeinflussen sich alle Mitglieder gegenseitig, weshalb nahe Bezugspersonen in den therapeutischen Prozess einbezogen werden können. Eine systemische Therapie kann jedoch auch als Einzeltherapie durchgeführt werden, wenn der Patient dies wünscht oder sein soziales Umfeld nicht an der Therapie teilnehmen möchte.

Das Ziel einer systemischen Therapie ist es, vorhandene Ressourcen zu stärken und Lösungen für bestehende Konflikte zu finden. In der systemischen Therapie liegt der Fokus daher nicht nur auf den Problemen, sondern auch auf den Stärken des Systems. Diese werden während der Sitzungen herausgearbeitet und betont.

Der Psychotherapeut hat nicht die Aufgabe, als Experte eine konkrete Lösung vorzugeben. Stattdessen agiert er eher als Moderator und stellt den Klienten Methoden zur Verfügung, durch die sie besser mit den Konflikten und Dynamiken innerhalb des Systems umgehen können. Der Psychotherapeut bleibt dabei neutral und offen gegenüber allen Beteiligten.

Wie funktioniert eine systemische Therapie?

Zu Beginn der Therapie wird gemeinsam mit dem Therapeuten ein konkretes Behandlungsziel festgelegt (Auftragsklärung). Anschließend werden die bestehenden Probleme analysiert und alle Beteiligten überlegen gemeinsam, wie diese gelöst werden können. Der Psychotherapeut bietet dabei keine fertigen Lösungen an, sondern hilft den Klienten, eigene Lösungsansätze zu entwickeln.

In der systemischen Therapie werden verschiedene Methoden eingesetzt, um Missstände sichtbar zu machen. Dabei haben sich bestimmte Fragetechniken als besonders wirksam erwiesen, um mehr Informationen über die Problematik zu gewinnen und gleichzeitig neue Betrachtungsweisen zu fördern.

Fragetechniken

Zirkuläre Fragen: Bei zirkulären Fragen wird ein Mitglied des Systems zu den Gefühlen, Gedanken oder Meinungen einer anderen Person befragt. Dies stärkt die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, und ermöglicht es gleichzeitig, verschiedene Perspektiven auf dasselbe Problem zu beleuchten.

  • Beispiel: „Was denkt Ihr Partner, wenn Sie sich so verhalten?“

Skalierungsfragen: Mithilfe von Skalierungsfragen lässt sich verdeutlichen, wie unterschiedlich die Meinungen verschiedener Menschen zu einer Problematik sein können. Zudem können Fortschritte innerhalb der Therapie sichtbar gemacht werden.

  • Beispiel: „Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie stark belastet Sie das Problem?“ / „Was müsste passieren, damit Ihr Stresslevel von 7 auf 4 sinkt?“

Ausnahmefragen: Ausnahmefragen können hilfreich sein, um die Ursache eines Problems zu verdeutlichen.

  • Beispiel: „In welchen Situationen tritt das Problem nicht auf?“

Wunderfragen und hypothetische Fragen: Dabei sollen sich die Beteiligten vorstellen, was passieren würde, wenn das Problem plötzlich verschwindet. Diese Fragetechnik kann ebenfalls helfen, die Ursache des Problems zu verdeutlichen.

  • Beispiel: „Stellen Sie sich vor, durch ein Wunder würde das Problem über Nacht verschwinden. Woran würden Sie das zuerst merken?“ / „Was wäre, wenn Ihr Partner sein Verhalten von heute auf morgen verändert?“

Verschlimmerungsfragen: Die Probleme werden durch eine solche Frage aus einer ungewohnten Perspektive betrachtet. Das kann eine gewisse Distanz zum Problem schaffen, die neue Handlungsoptionen erkennbar macht.

  • Beispiel: „Wie müssten Sie sich verhalten, um die Situation zu verschlimmern?“
Reframing und positive Konnotation

Reframing lässt sich sinngemäß mit „Umdeutung“ übersetzen. Dabei soll während der Psychotherapie erlernt werden, Situationen oder Probleme aus einer anderen Sichtweise zu betrachten und sie positiver wahrzunehmen.

Beispiel: Person A hat Angst, enttäuscht zu werden, und verhält sich deshalb abweisend gegenüber anderen. Dieser Rückzug ist für Person A ein Schutz, wird aber in ihrem sozialen Umfeld als negativ wahrgenommen. Wenn sich andere jedoch in Person A hineinversetzen, erkennen sie, dass dieses Verhalten für Person A einen Sinn hat. So entsteht ein neuer Blickwinkel, der eine positivere Sichtweise anregen kann.

Paradoxe Intervention

Die paradoxe Intervention ist eine Methode, bei der der Psychotherapeut den Patienten anweist, sich absichtlich problematisch zu verhalten („Symptomverschreibung“). Diese widersprüchliche Anweisung soll helfen, automatische Verhaltensweisen zu durchbrechen. Die paradoxe Intervention kann individuell auf die jeweilige Problematik abgestimmt werden.

Beispiel: Ein Kind verhält sich zu Hause, wie es möchte, und folgt den Anweisungen der Eltern nicht. Der Psychotherapeut gibt ihm nun die Aufgabe, dieses Verhalten für einen bestimmten Zeitraum zu verstärken. Das absichtliche Herbeiführen von unerwünschtem Verhalten führt in den meisten Fällen zur Abschwächung dessen. Gleichzeitig erlebt das Kind, dass sein Verhalten kontrollierbar ist.

Arbeit mit Metaphern und Darstellungen

Metaphern oder graphische Darstellungen können helfen, die Dynamiken innerhalb eines Systems besser zu verstehen und die Ursachen von Problemen zu verdeutlichen. Sie schaffen zudem eine gewisse Distanz zur Konfliktsituation, wodurch das Problem auf einer anderen Ebene betrachtet werden kann.

In einem Soziogramm oder Genogramm können soziale Beziehungen und Probleme (z. B. innerhalb einer Familie) visualisiert werden. Symbole und Verbindungslinien können dabei helfen, komplexe Problematiken übersichtlich darzustellen. Der Psychotherapeut leitet die Klienten dabei an, versucht jedoch, möglichst neutral zu bleiben und den Prozess zu beobachten.

Auch psychodramatische Techniken können in der systemischen Therapie angewandt werden. Beispielsweise kann eine typische Konfliktsituation nachgespielt werden, wobei die Beteiligten ihre Rollen tauschen, und so unterschiedliche Perspektiven einnehmen.

Das Erstellen von Skulpturen oder Figurenkonstellationen kann, insbesondere bei der Arbeit mit Familien, Teil einer systemischen Therapie sein. Dabei stellen die Beteiligten Figuren oder Gegenstände so im Raum auf, wie sie ihre eigene Position im System wahrnehmen. Personen, die sich sehr nahestehen, können beispielsweise auch in der Aufstellung nebeneinanderstehen. Andere Figuren können hingegen weiter entfernt voneinander platziert werden.

Externalisierung

Externalisierung ist eine Methode, die in der systemischen Therapie, aber auch in anderen Psychotherapieverfahren genutzt wird. Dabei wird das Problem nicht als Teil einer Person gesehen, sondern nach außen verlagert („Du bist nicht das Problem, sondern du hast ein Problem“). So kann die Problematik differenziert betrachtet werden und es wird Raum für Veränderung geschaffen.

Die Trennung von Mensch und Problem kann dabei sowohl sprachlich als auch visuell erreicht werden. Eine sprachliche Trennung kann bereits durch kleine Änderungen in der Formulierung erfolgen: „In welchen Phasen sind Sie besonders depressiv?“ wird zu „Wann ist die Depression besonders stark ausgeprägt?“

Insbesondere bei der Arbeit mit Kindern kann es helfen, das Problem zu visualisieren. Eine Depression oder Angststörung kann beispielsweise als dunkle Wolke beschrieben werden, die ein Familienmitglied in bestimmten Phasen begleitet.

Wann ist eine systemische Therapie sinnvoll?

Der Wissenschaftliche Beirat für Psychotherapie (WBP) hat in Deutschland die Aufgabe, die Wirksamkeit von Psychotherapieverfahren nach wissenschaftlichen Kriterien zu beurteilen. Die Wirksamkeit der systemischen Therapie bei Erwachsenen wurde dabei in fünf Bereichen anerkannt:

  • Affektive Störungen (z. B. Depressionen)
  • Essstörungen
  • Abhängigkeit und Substanzmissbrauch
  • Schizophrenie und wahnhafte Störungen
  • Psychosomatische Erkrankungen

Bei Kindern und Jugendlichen wurde die Wirksamkeit einer systemischen Therapie in vier Bereichen anerkannt:

  • Störungen des Sozialverhaltens
  • Essstörungen
  • Abhängigkeit und Substanzmissbrauch
  • Psychosomatische Erkrankungen

Die systemische Therapie ist ein vielseitiges Verfahren, das nachhaltige Veränderungen beim Patienten und seinem Umfeld bewirken kann. Allerdings stößt sie in bestimmten Situationen an ihre Grenzen. Da die systemische Therapie den Patienten nicht isoliert betrachtet, hängt der Therapieerfolg zum Teil auch von den Bezugspersonen ab. Sind diese nicht offen für eine Therapie und Veränderungen, kann dies den Therapieerfolg beeinträchtigen.

Das Ziel einer systemischen Therapie ist, das soziale System zu stärken und dessen Vorteile herauszuarbeiten. In bestimmten Fällen, zum Beispiel bei Missbrauch oder Gewalt, ist dies jedoch kontraproduktiv. Eine neutrale Haltung des Therapeuten sowie die Stärkung des Systems sind in solchen Fällen nicht angemessen.

Bei stark ausgeprägten psychischen Störungen sind andere Psychotherapieverfahren (z. B. Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologische Psychotherapie) unter Umständen besser geeignet. Die individuellen Probleme des Patienten können dort stärker fokussiert und bearbeitet werden.

Paartherapie – Familientherapie – Systemische Therapie

Der Begriff „systemische Therapie“ ist gesetzlich nicht geschützt. Es kann daher sinnvoll sein, sich vor Beginn einer systemischen Therapie über die Ausbildung des Psychotherapeuten zu informieren. Bestimmte Zertifikate weisen nach, dass ein Psychotherapeut eine fundierte Aus- und Weiterbildung in systemischer Therapie absolviert hat.

Dazu gehören die Zertifikate der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie (DGSF) und der Systemischen Gesellschaft (SG), die Richtlinien für die Weiterbildung aufstellen. Ein systemischer Therapeut, der eine solche Ausbildung durchlaufen hat, lässt sich an folgenden Bezeichnungen erkennen:

  • Systemischer Therapeut (DGSF)
  • Systemischer Therapeut (SG)
Paartherapie

Eine Paartherapie bzw. Ehetherapie gilt in Deutschland grundsätzlich als Beratung oder Coaching und nicht als Psychotherapie. Die Grenzen zwischen einer Paarberatung und einer Paartherapie sind jedoch fließend, da beide Begriffe gesetzlich nicht geschützt sind. Die Kosten einer klassischen Paarberatung oder Paartherapie werden von den gesetzlichen Krankenkassen nicht übernommen.

Anders verhält es sich, wenn einer der Partner unter einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung (z. B. Depression) leidet und diese durch die Partnerschaft stark beeinflusst wird. In solchen Fällen kann eine systemische Therapie im sogenannten Mehrpersonensetting stattfinden. Da die systemische Therapie zu den Richtlinienverfahren gehört, werden die Kosten zur Behandlung einer psychischen Erkrankung übernommen.

Familientherapie

Ähnlich wie bei der Paarberatung werden die Kosten einer Familienberatung oder Familientherapie nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Auch hier gilt jedoch, dass die Kosten einer Therapie übernommen werden, sofern eine psychische Störung vorliegt, die durch die familiäre Situation verursacht oder verstärkt wird.

Eine Familientherapie kann in verschiedenen Situationen hilfreich sein:

  • Psychische Erkrankung eines Familienmitglieds
  • Schwere körperliche Erkrankung eines Familienmitglieds
  • Verlust eines Familienmitglieds
  • Trennung und Scheidung
  • Verhaltensauffälligkeiten oder schulische Probleme eines Kindes
Paar- oder Familienberatung bei öffentlichen Einrichtungen

Die Kosten einer Paar- oder Familientherapie müssen in einigen Fällen selbst getragen werden und können zwischen 100 und 200 Euro pro Sitzung betragen. Einige kirchliche oder gemeinnützige Organisationen bieten jedoch Beratungen deutlich günstiger oder sogar kostenlos an. In diesen Fällen handelt es sich zwar nicht um eine klassische Psychotherapie, jedoch werden diese Beratungen unter anderem auch von Psychologen oder Sozialpädagogen durchgeführt.

Beratungsangebote finden Sie zum Beispiel hier:

Literatur

Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie: „Was heißt systemisch?“

Systemische Gesellschaft: „Was ist systemisch?“

Pressemitteilung der Bundespsychotherapeutenkammer: „Wirksamkeit der systemischen Therapie anerkannt“. Berlin. 2018

von Sydow, Kirsten, and Ulrike Borst, eds. „Systemische Therapie in der Praxis“. Beltz, 2018.

Schweitzer, Jochen, et al. „Systemische Therapie/Familientherapie“. Psychotherapeutenjournal 1.2007 (2007): 4-19.

01.11.2024

Autor

  • Dr. med. Robert Sarrazin

    Dr. med. Robert Sarrazin arbeitet als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in eigener Praxis. Zu seinen Behandlungsschwerpunkten zählen u.a. Depressionen, Angst- und Panikstörungen, chronische Überlastung und Burnout sowie psychosomatische Beschwerden. Dr. Sarrazin unterstützt seine Patienten mit verhaltenstherapeutischer Psychotherapie sowie bei Bedarf zusätzlich mit Medikamenten. Er greift dabei auf eine langjährige praktische Berufserfahrung in verschiedenen Kliniken und im ambulanten Bereich zurück.

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