Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

Theorie und Praxis in der modernen Psychotherapie

Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP) beschäftigt sich intensiv mit dem Unterbewusstsein des Menschen. Die zentrale Theorie der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie besagt, dass unbewusste Prozesse im Inneren das Denken und Handeln eines Menschen stark beeinflussen. Es wird angenommen, dass durch Traumata oder negative Erfahrungen, insbesondere in der Kindheit, innere Konflikte entstehen, die sowohl zu psychischen als auch zu körperlichen Erkrankungen führen können. Ausgehend von aktuellen psychischen oder sozialen Schwierigkeiten wird ein Zusammenhang mit biografische Ereignissen aus Kindheit und Jugend hergestellt.

Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie gehört zu den Richtlinienverfahren. Das bedeutet, dass die Kosten einer Psychotherapie übernommen werden, sofern eine Indikation (medizinische Notwendigkeit) besteht. Im Rahmen einer Langzeittherapie übernehmen die gesetzlichen Krankenversicherungen zunächst die Kosten für 60 Sitzungen. Bei einer Verlängerung sind bis zu 100 Sitzungen möglich. Die TP kann sowohl als Einzel- als auch als Gruppentherapie durchgeführt werden, wobei die Sitzungen in der Regel einmal wöchentlich stattfinden.

Grundlagen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Nach der Theorie von Sigmund Freud befinden sich im Unterbewusstsein vor allem verdrängte Gedanken, Gefühle oder Wünsche. Das Bewusstsein ist so vor einer ständigen Konfrontation mit diesen Inhalten geschützt. Insbesondere die negativen Inhalte haben jedoch auch im Unterbewusstsein eine Wirkung auf den Menschen. Sie können die Psyche belasten und zu Problemen im Verhalten sowie in zwischenmenschlichen Beziehungen führen. Das Eisbergmodell veranschaulicht, welchen Anteil das Unterbewusstsein nach Freuds Theorie an der Psyche ausmacht.

Das Ziel der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist, Zugang zum Unterbewusstsein zu erhalten und innere Konflikte sichtbar zu machen. So können Patient und Therapeut verstehen, wie diese im Alltag zu Problemen führen. Inhalte aktiv aus dem Unterbewusstsein ins Bewusstsein zu bringen, kann jedoch schwierig sein. Hilfreich ist es daher, Denk- und Verhaltensmuster zu beobachten, da diese meist automatisch und unbewusst ablaufen und so Aufschluss über Prozesse im Unterbewusstsein geben können.

Übertragung und Gegenübertragung

Eine zentrale Annahme in der Tiefenpsychologie ist, dass Konflikte und Muster, die in der Beziehung zwischen Therapeut und Patient auftreten, auch in anderen Beziehungen des Patienten vorkommen. Durch die Beobachtung der Therapeut-Patienten-Beziehung können Konflikte in anderen Beziehungen des Patienten aufgedeckt und thematisiert werden. Die Begriffe Übertragung und Gegenübertragung spielen dabei eine wichtige Rolle.

Übertragung beschreibt, wie der Patient unbewusst Gefühle oder Wünsche aus vergangenen Beziehungen (z. B. aus der Kindheit) auf gegenwärtige Beziehungen (z. B. zum Therapeuten) projiziert. Hat eine Person in der Kindheit problematische Erfahrungen mit den Eltern gemacht, nimmt sie den Therapeuten möglicherweise ebenfalls als Autoritätsperson wahr und verhält sich ihm gegenüber automatisch ablehnend.

Gegenübertragung beschreibt die Reaktionen und Gefühle des Therapeuten gegenüber dem Patienten. Hierbei kann zwischen objektiver und subjektiver Gegenübertragung unterschieden werden:

  • Objektive Gegenübertragung: Der Therapeut reagiert direkt auf das Gesagte des Patienten. Beispiel: Der Therapeut ist berührt, wenn der Patient ihm von einem einschneidenden Erlebnis aus seinem Leben erzählt.
  • Subjektive Gegenübertragung: Die Reaktion des Therapeuten resultiert aus seinen eigenen Erfahrungen und bezieht sich nicht direkt auf den Patienten. Beispiel: Der Patient kritisiert den Therapeuten, woraufhin dieser wütend oder abweisend reagiert. Im Nachhinein stellt der Therapeut fest, dass er wahrscheinlich so reagiert hat, weil er früher oft unberechtigt kritisiert wurde.

Übertragung und Gegenübertragung können eine Psychotherapie sowohl positiv als auch negativ beeinflussen. Beispielsweise können sie den Patienten daran hindern, offen über seine Probleme und Gefühle zu sprechen. Werden Übertragungsphänomene jedoch erkannt, können Vorgänge im Unterbewusstsein des Patienten besser verstanden werden. Die Beobachtung von Übertragungsphänomenen spielt daher eine wichtige Rolle in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie.

Abwehrmechanismen

Es wird angenommen, dass der Mensch unbewusst Abwehrmechanismen nutzt, um sich vor Angst und schädlichen Einflüssen zu schützen. Negative Gefühle und Wahrnehmungen können dadurch ausgeblendet werden, was emotionale Entlastung schafft und innere Konflikte lindert.

Es gibt eine Vielzahl von Abwehrmechanismen, die je nach Situation und Persönlichkeitstyp unbewusst verwendet werden. Dazu gehören unter anderem:

  • Rationalisierung: Für negative Erlebnisse wird eine logische Erklärung gesucht. Beispiel: Ein Schüler fällt durch eine Prüfung und begründet dies damit, währenddessen Kopfschmerzen gehabt zu haben. Dadurch muss er sich nicht damit auseinandersetzen, zu wenig gelernt zu haben.
  • Projektion: Eigene Denk- oder Verhaltensweisen, insbesondere die negativen, werden unbewusst anderen Menschen zugeschrieben. Beispiel: Eine Person begeht einen Fehler. Um die eigenen Schuldgefühle zu lindern, beschuldigt sie andere des Fehlverhaltens.
  • Verschiebung: Negative Gefühle werden nicht bei der auslösenden Person entladen, sondern auf eine andere Person oder einen Gegenstand übertragen. Beispiel: Ein Angestellter ist wütend auf seinen Chef. Da er seine Wut nicht an ihm auslassen kann, tut er dies stattdessen an seinem Partner.
  • Sublimierung: Inakzeptable Triebe oder Bedürfnisse werden in sozial akzeptierter Form ausgelebt. Beispiel: Ein Mensch, der viel Aggression im Inneren verspürt, lebt diese Energie im Kampfsport aus.
  • Verdrängung: Unerwünschte Gedanken werden aktiv verdrängt und vom Bewusstsein ferngehalten. Beispiel: Der Gedanke an ein traumatisches Ereignis wird sofort beiseite geschoben, sobald er auftritt.
  • Identifikation: Eine Person identifiziert sich mit einer anderen Person oder Gruppe, um eigene Ängste weniger bedrohlich erscheinen zu lassen. Beispiel: Ein Kind fühlt sich unsicher und ängstlich. Es beginnt, den Kleidungsstil und das Verhalten eines berühmten Sportlers nachzuahmen, um sich selbstbewusster zu fühlen.

Nach Sigmund Freud sind Abwehrmechanismen zunächst einmal natürlich und nicht problematisch. Sie können kurzfristig sogar hilfreich sein, um schmerzhafte Gefühle zu lindern. Langfristig verhindern sie jedoch, dass sich der Mensch aktiv mit seinen Ängsten und Gefühlen auseinandersetzt. Sich seiner eigenen Abwehrmechanismen im Rahmen einer Psychotherapie bewusst zu werden, kann daher helfen, innere Konflikte aufzulösen und negative Erlebnisse zu verarbeiten.

Widerstände

Widerstände zählen ebenfalls zu den Abwehrmechanismen, da sie die Auseinandersetzung mit bestimmten Gefühlen oder Gedanken behindern. In der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie kann die Beobachtung solcher Widerstände genutzt werden, um Unbewusstes sichtbar zu machen.

Beispiele für mögliche Widerstände sind:

  • Häufiges Zuspätkommen des Patienten zur Therapiestunde
  • Besonders fröhliche oder unangemessene Stimmung während der Therapie (zur Verdeckung der tatsächlichen Gefühle)
  • Vermeidung wichtiger Themen oder ausführliche Erzählungen über irrelevante Themen

Selbstverständlich ist nicht jede dieser Verhaltensweisen ein Zeichen für einen unbewussten Widerstand des Patienten. Diese zu erkennen, kann für den Psychotherapeuten daher herausfordernd sein. Werden Widerstände nicht erkannt, kann dies den Therapieerfolg beeinträchtigen, da Therapeut und Patient dadurch nicht zu den tatsächlich relevanten Themen vordringen können.

Wie läuft eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ab?

Um Zugang zu den Prozessen im Unterbewusstsein zu erlangen, werden in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie verschiedene Methoden genutzt. Eine besonders wichtige Rolle spielen dabei die Betrachtung von Übertragung, Gegenübertragung, Abwehrmechanismen und Widerständen. Diese Mechanismen während der Psychotherapie zu erkennen und ihrer Ursache auf den Grund zu gehen, kann Aufschluss über Vorgänge im Unterbewusstsein geben.

Eine weitere Methode ist die freie Assoziation. Hierbei soll der Patient ungefiltert alle seine Gedanken und Gefühle äußern, egal wie unwichtig oder peinlich sie ihm erscheinen. Der Psychotherapeut bleibt dabei vor allem Beobachter und hält sich mit Äußerungen zurück, um den Gedankenfluss des Patienten nicht zu stören. Das freie Assoziieren hilft, die Selbstkontrolle, also das Bewusstsein, herabzusetzen und so den Zugang zu unbewussten Inhalten zu erleichtern.

Nach der Theorie von Freud gelten Träume als Ausdruck des Unterbewusstseins. Die Traumanalyse kann daher Aufschluss über unbewusste Gedanken, Gefühle und Wünsche geben. In der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie spielt die Interpretation von Träumen jedoch meist eine untergeordnete Rolle.

Wann ist eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sinnvoll?

Eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie kann sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Behandlung vieler psychischer Erkrankungen eingesetzt werden. Dazu gehören unter anderem:

Das Verfahren sollte jedoch nicht bei Manien (z. B. im Rahmen einer bipolaren Störung), Schizophrenie, fortgeschrittener Demenz und schweren Suchterkrankungen angewandt werden. Für diese Erkrankungen bestehen sogenannte Kontraindikationen, da die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie die Symptomatik verschlechtern könnte und sich andere Verfahren als wirksamer erwiesen haben.

Verglichen mit der Verhaltenstherapie oder systemischen Therapie ist die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie länger und intensiver, jedoch meist kürzer als eine analytische Psychotherapie. Die Wahl des passenden Psychotherapieverfahrens hängt von vielen Faktoren ab, darunter die Art der psychischen Erkrankung, die benötigte Therapiedauer und die Motivation des Patienten.

Unterschiede zur analytischen Psychotherapie

Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie geht, genau wie die analytische Psychotherapie, auf Sigmund Freud zurück. Inhaltlich befassen sich beide Methoden mit der Rolle des Unterbewusstseins und seinem Einfluss auf die Psyche. Beide Verfahren werden daher auch unter dem Begriff psychodynamische Psychotherapie zusammengefasst.

Die analytische Psychotherapie beschäftigt sich jedoch intensiv mit der Aufarbeitung von Ereignissen aus der Kindheit. Frühkindliche Traumata sollen durch die analytische Psychotherapie vollständig aufgelöst und die Persönlichkeitsstruktur verändert werden. Dies ist ein langer und intensiver Prozess, der die aktive Mitarbeit des Patienten erfordert.

Klassischerweise liegt der Patient bei der analytischen Psychotherapie auf einer Couch, während der Therapeut außerhalb seines Sichtfeldes sitzt. Dadurch soll der Gedankenfluss des Patienten nicht gestört oder beeinflusst werden. Der Psychotherapeut nimmt in der analytischen Psychotherapie eine eher passive Rolle ein, denn er versucht, den Patienten weder zu lenken noch zu unterbrechen.

Da die analytische Psychotherapie ebenfalls zu den Richtlinienverfahren gehört, übernehmen die gesetzlichen Krankenversicherungen im Rahmen einer Langzeittherapie zunächst die Kosten für 160 Sitzungen. Sollte eine längere Behandlung nötig sein, kann die Anzahl der Sitzungen auf bis zu 300 verlängert werden. Durch die hohe Anzahl an Sitzungen kann eine analytische Psychotherapie mehrere Jahre andauern, wobei die Sitzungen oft mehrmals wöchentlich stattfinden.

Der Fokus der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie liegt auf der Gegenwart und der Bewältigung aktueller Konflikte. Zwar werden vergangene Ereignisse ebenfalls thematisiert, eine ausführliche Bearbeitung von Kindheitserlebnissen ist jedoch nicht das Ziel.

Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie unterscheidet sich von der analytischen Psychotherapie außerdem dadurch, dass abgegrenzte Problembereiche des Patienten bearbeitet werden. Eine Veränderung der gesamten Persönlichkeitsstruktur ist nicht das Ziel, daher ist diese Psychotherapie kürzer als eine analytische Psychotherapie und gilt insgesamt als praxisorientierter.

Der Psychotherapeut ist in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie aktiver als in der analytischen Psychotherapie. Er gibt Rückmeldungen und lenkt das Gespräch. Bei der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie sitzen sich Patient und Psychotherapeut zudem klassischerweise gegenüber.

Analytische vs. tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie: Ist die Unterscheidung sinnvoll?

Der Wissenschaftliche Beirat für Psychotherapie (WBP) bewertet und prüft in Deutschland die Wirksamkeit von Psychotherapieverfahren nach wissenschaftlichen Kriterien. Auf Basis seiner Ergebnisse berät er Gremien wie den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), der darüber entscheidet, welche Verfahren als Richtlinienverfahren anerkannt werden.

Der WBP forderte 2004 die einheitliche Bezeichnung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und der analytischen Psychotherapie als psychodynamische Psychotherapie. Er sprach sich zudem für eine einheitliche Ausbildung aus:

„Der WBP sieht keine wissenschaftliche Grundlage für eine Unterscheidung zwischen tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie als zwei getrennte Verfahren. Diese Unterscheidung ist lediglich sozialrechtlich bedingt und eine Besonderheit der Bundesrepublik Deutschland. Von daher sieht der WBP auch keine Rechtfertigung für unterschiedliche Ausbildungsgänge und Ausbildungsinstitute […].“

Dies sollte einerseits die Bürokratie und Abrechnung erleichtern und den Therapeuten andererseits die Flexibilität bieten, Elemente aus beiden Verfahren in die Psychotherapie zu integrieren. So könne die Therapie individueller gestaltet werden, da Patienten sich nicht zwischen zwei Therapieverfahren entscheiden müssen.

Der Gemeinsame Bundesausschuss lehnte die Forderung des Wissenschaftlichen Beirats für Psychotherapie jedoch ab. Trotz des gemeinsamen Ursprungs beider Verfahren und ihrer inhaltlichen Ähnlichkeiten, verfolgen sie eine unterschiedliche Zielsetzung und nutzen verschiedene Methoden. Somit existieren beide Verfahren weiterhin als eigenständige Richtlinienverfahren.

Literatur

Falkai P, Laux G, Deister A, Möller H, Hrsg. „Duale Reihe Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie.” 7., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart. Thieme. 2021.

Wöller W, Kruse J. „Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie: Basisbuch und Praxisleitfaden.“ Schattauer Verlag. 2014.

Boll-Klatt A, Kohrs M. „Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie.“ Kohlhammer Verlag. 2018.

de Maat, S, et al. „The current state of the empirical evidence for psychoanalysis: a meta-analytic approach.“ Harvard review of psychiatry 21.3 (2013): 107-137.

Ermann M, Waldvogel B. „Psychodynamische Psychotherapie—Grundlagen und klinische Anwendungen.“ Psychiatrie und Psychotherapie (2008): 703-742.

Möller H.-J., Laux G, Kapfhammer H.-P., eds. „Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie: Band 1: Allgemeine Psychiatrie Band 2: Spezielle Psychiatrie.“ Springer-Verlag, 2009.

Gemeinsamer Bundesausschuss. „Richtlinie über die Durchführung der Psychotherapie.“ Version mit Inkrafttreten vom 19.06.2024. Berlin: G-BA, 2024.

Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie. „Stellungnahme zur psychodynamischen Psychotherapie bei Erwachsenen.“ Berlin. 2004.

17.09.2024

Autor

  • Dr. med. Robert Sarrazin

    Dr. med. Robert Sarrazin arbeitet als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in eigener Praxis. Zu seinen Behandlungsschwerpunkten zählen u.a. Depressionen, Angst- und Panikstörungen, chronische Überlastung und Burnout sowie psychosomatische Beschwerden. Dr. Sarrazin unterstützt seine Patienten mit verhaltenstherapeutischer Psychotherapie sowie bei Bedarf zusätzlich mit Medikamenten. Er greift dabei auf eine langjährige praktische Berufserfahrung in verschiedenen Kliniken und im ambulanten Bereich zurück.

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